Von Melancholie bis Euphorie

Tagung Gespeicherte Gefühle (c) Jana Madzigon
Karska Went (c) Jana Madzigon
Hofmaninger Schwarz (c) Jana Madzigon
Ensemble Labilia (c) Jana Madzigon

Nachbericht zur Tagung „Gespeicherte Gefühle - Affekte im Archiv“

Das Archiv der Zeitgenossen lud am 13./14.10.2022 im Rahmen eines zweitägigen Programms zum Thema „Gespeicherte Gefühle – Affekte im Archiv“ zu einer Tagung samt Workshop, Filmvorführung, Performance, Ausstellung und Konzert ans Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems.

Am 13.10. fand ein Workshop zum Thema „Gespeicherte Gefühle – Affekte im Archiv“ statt, der sich vorwiegend an die Mitarbeiter_innen der einschlägigen (Literatur-) Archive richtete und zum gemeinsamen Austausch einladen sollte. Vier kurze Inputvorträge aus verschiedenen Institutionen näherten sich den vielfältigen Affektkonstellationen in Archiven.

Ausgehend von ihrer langjährigen „Beziehung“ zu Gertraud Cerha, der Ehefrau des Komponisten Friedrich Cerhas, reflektierte Gundula Wilscher die wechselseitigen Rollen, Verpflichtungen und Gefühle zwischen Archivar_innen und Bestandsbildner_innen. Mit zentralen Fragestellungen wurden vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Annahmen und Zuschreibungen in der archivarischen Praxis kritisch beleuchtet. „Was nehmen wir uns von den Vorlassgeber_innen/Angehörigen? Was dürfen wir nehmen? Dürfen wir auch etwas geben?“

Marlene Hans, Mitarbeiterin der Maria Lassnig Stiftung, gab Einblick in den umfangreichen und vielseitigen Bestand der Künstlerin. Speziell die Bedeutung von Lassnigs schriftstellerischem Schaffen, die erst durch die Aufarbeitung des Archivs gänzlich zu Tage trat, stand im Zentrum des Vortrags. Maria Lassnigs tagebuchartigen Journale, die sie seit den 1940er Jahren regelmäßig führte, offenbaren neben zahlreichen Referenzen auf prominente Schriftsteller_innen, wie etwa Peter Handke oder Friederike Mayröcker, auch eine eigenständige künstlerische Position.

Mario Huber berichtete von den Beständen des Kabarettarchivs Graz und erläuterte die gattungsspezifischen Schwierigkeiten bei der Archivierung von Kabarett. Neben der grundsätzlichen Problemlage, „Was sammelt ein Kabarettarchiv eigentlich?“, konstatierte Huber zudem große Überlieferungslücken und Leerstellen im Archiv hinsichtlich Text- und Aufführungsdokumentation. Hinzu kommt der Aspekt der besonders starken zeitlichen Bindung vieler Inhalte, so dass sich viele Kabarettprogramme aus heutigem Wissens- und Wahrnehmungsstand als höchst problematisch herausstellen, weil diese sexistisch, rassistisch, homophob, bzw. schlicht „einfach nicht mehr lustig“ sind.

Die Autorin Brigitte Schwaiger war Ausgangspunkt von Stefan Maurers Reflexionen zu den Affekten, die die Biografie, Rezeption und den Bestand der Autorin umgeben. Die Sorge des Literaturwissenschaftlers um das Werk der Autorin spielte dabei ebenso eine Rolle, wie die aus dem Archiv geleistete Gegenarbeit zu einseitigen Zuschreibungen sowie der Pathologisierung der Autorin. Maurer führte hier den Aspekt der Zeug_innenschaft von Archivar_innen ins Treffen, denen besonders bei lückenhaften und prekären Beständen eine wichtige Rolle zukommt.

Als Abendprogramm wurde der Film „One More Step West ist the Sea: ruth weiss“ des österreichischen Filmemachers Thomas Antonic im Kino im Kesselhaus gezeigt, der sich der exzeptionellen Lebensgeschichte der Beatpoetin und Erfinderin der Jazz-Text Performances widmet.

Affekte im Archiv

Die Tagung am 14.10. wurde mit einem Beitrag der Politikwissenschaftlerin Brigitte Bargetz (Kiel) eröffnet, die sich in ihrer Forschung im Bereich der affect studies, mit dem Verhältnis zwischen Politik und Gefühlen auseinandersetzt. Unter Bezugnahme auf die kanadische Gendertheoretikerin Ann Cvetkovich sprach Bargetz über die Gegenüberstellung von Politik und Gefühl als wirkmächtige Fiktion, die von den queer/feminist studies sowie den postcolonial studies als Instrument der Herrschaftserhaltung kritisch hinterfragt wurde. Mit der Praxis der „kritischen Fabulation“ der Afroamerikanistin Saidiya Hartmann wurde eine Möglichkeit präsentiert wie mit den Leerstellen im Archiv umgegangen werden könnte.

Der Frage der Verantwortung im Erinnern in Verbindung mit der Identitätsbildung einer politischen Gesellschaft widmeten sich auch die Beiträge von Georg Spitaler (Wien) und Andreas Liska-Birk (Krems). Dabei setzte sich Liska-Birk mit der Gründung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW) 1963 auseinander, die nicht nur vergleichsweise spät erfolgte, sondern auch geprägt war von der politischen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit über die Identität der österreichischen Nation und von der bis in die Gegenwart andauernden Beschäftigung mit der Opfer-Täter-Rolle. Georg Spitaler zeigte anhand des Lebens und Nachlasses von Hilde Krones (1910–1948), jener von Otto Bauer geprägten linken Sozialdemokratin und Vorkämpferin für Frauenrechte, wie gerade die (politische) Wirkung von Frauen in der gesellschaftlichen Erinnerung verdrängt wurde und lässt diese nun im Sinne einer Hauntology (J. Derrida) zurückkehren.

Von der drohenden Gefahr durch den „Tod durch Nostalgie“ sprach der Autor und Kognitionsforscher Thomas Raab (Wien). Denn die Zyklen der sehnsüchtigen Rückbesinnung auf das Vergangene würden immer kürzer, die Menge des Zu-Bewahrenden wüchse gleichzeitig immer weiter an, sodass die Bürokratie des Sammelns notwendiger Weise ins Hintertreffen geraten müsse. Raab verband diese Analyse mit einer Zeitdiagnose, die lakonisch zusammengefasst lautete: „Je mehr Archiv desto mehr Angst vor der Dynamik der Realität.“

Christine Rigler (Graz) reflektierte in ihrem Beitrag die Entscheidungs- und Handlungsspielräume im Arbeitsalltag von Archivar_innen. Die Ambivalenz mache sich mindestens auf zwei Ebenen bemerkbar – einerseits in Bezug auf die_den Bestandsbilder_in, die angesichts des Vor- oder Nachlasses in einem anderen Licht erscheine, als dies die öffentliche Wahrnehmung der Person vermuten ließe, andererseits in Bezug auf den Bestand selbst, bei dem sich immer wieder die Frage der Archivierungswürdigkeit stelle. Die Digitale Revolution stelle die Archivtätigkeit vor weitere, noch immer nicht beantwortbare Fragen und Herausforderungen. Zum einen könne sich ein gewisser kontra-intuitiver Trend ausmachen lassen, so Rigler, bei dem die Digitalisierung bereits die Vorstufe zum Löschen und damit Vergessen sein könne. Zum anderen werde die Frage des Ent-Sammelns, also was nicht in den Archivbestand übernommen werden soll, immer drängender angesichts digitaler Speicherinhalte und -formate.

Im abschließenden Tagungsbeitrag sprach Bernadette Reinhold (Wien) über Mutterfiguren in der Kunst, insbesondere über das komplexe Verhältnis von Oskar Kokoschka zu seiner Mutter Romana und die Auswirkungen dieser Beziehungen auf das künstlerische Schaffen, den Nachlass wie auch das Bild des Künstlers zu Lebzeiten und posthum.

Gefühls-Spielräume

Das umfangreiche Abendprogramm fand in den Räumlichkeiten des Archivs der Zeitgenossen statt, die zunächst mit der Performance „Mymemorial. Eine Archivbesetzung“ des Performancetrios Labilia bespielt wurden. Ausgehend von eigens mitgebrachten und platzierten Archivobjekten sowie Impulsen der Teilnehmer_innen, setzte sich die Performance auf spielerische Weise mit der Architektur des Archivs auseinander. Im Anschluss erfolgte in Kooperation mit AIR – Artist in Residence Niederösterreich die Eröffnung der Ausstellung Alicja Karska / Aleksandra Went. Die beiden polnischen Künstlerinnen setzten sich in konzeptuellen Fotografien und Videos mit Fragen der Erinnerung und Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses auseinander.  Die gezeigten Arbeiten nahmen auf den Themenkomplex des Sammelns ebenso Bezug wie auf den Ausstellungsort des Archivs der Zeitgenossen.Das Duo Hofmaninger/Schwarz lieferte mit improvisierten Klängen aus Klarinette, Saxofon und Schlagzeug sowie diversen Schlagwerken einen fulminanten Abschluss der Veranstaltung.

Workshop, Tagung sowie das Rahmenprogramm bestätigten einmal mehr die vielfachen und diversen Anknüpfungspunkte zur Thematik „Affekt und Archiv“. Eine Dokumentation der Beiträge sowie die weitere Vertiefung der Thematik ist mit zwei Publikationen  im nächsten Jahr geplant: Die im Rahmen des Workshops präsentierten Kurzvorträge sollen gemeinsam mit Inputs, welche im Rahmen einer KOOP-LITERA Tagung in Linz präsentiert wurden, in einem Sammelband in der Literaturedition Niederösterreich erscheinen, die Tagungsbeiträge werden 2023 in der Reihe „Literatur und Archiv“ bei De Gruyter von Helmut Neundlinger und Fermin Suter herausgegeben werden.

Text: Hanna Prandstätter, Robert Neiser