Abschied von Erwin Riess

Erwin Riess (c) Alexander Golser

Das Archiv der Zeitgenossen trauert um den Autor Erwin Riess, der im Alter von 66 Jahren verstorben ist.

Riess wuchs im Kremser Stadtteil Lerchenfeld auf, unweit des VÖEST-Geländes, jenes Betriebs, in dem sein Vater als Ingenieur tätig war. Früh schärfte sich bei Riess die Aufmerksamkeit für Klassenverhältnisse in der Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen. In der Oberstufe seiner Kremser Gymnasialzeit war er Teil einer Theatergruppe, die unter anderem ein Stück des Dramatikers Peter Turrini zur Aufführung brachte. Turrini kam persönlich vorbei und diskutierte mit den jungen Menschen über seine Arbeit.

Nach der Matura übersiedelte Riess nach Wien und nahm ein Studium der Politik- und Theaterwissenschaft auf, das er 1984 mit einer Dissertation über „Ökonomische und staatliche Strukturen des österreichischen Kapitalismus“ abschloss. Seine Bildung im Bereich der politischen Ökonomie verlieh auch seinen späteren literarischen und essayistischen Texten eine analytische Dimension, die seinesgleichen suchte. Seine publizistische Karriere startete er als Essayist für politische Magazine wie „konkret“. In Eigenregie gab er die bereits im Titel kämpferische Broschüre „der streit“ heraus, in der er polemisch zu zeitgeschichtlich-politischen Themen Stellung nahm.

Ein Rückenmarktumor hatte zur Folge, dass Riess seit 1983 als Rollstuhlfahrer lebte. Von 1984 bis 1994 war er als Referent für Behindertengerechtes Bauen im Wirtschaftsministerium tätig und leitete in dieser Funktion einige pionierhafte Änderungen in Sachen Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude ein. Er entwickelte sich zum Aktivisten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und arbeitete bei dem internationalen Netzwerk EUCREA – European Network on Creativity by and for Disabled Persons mit.

Ab 1994 konzentrierte er sich auf seine Tätigkeit als freier Schriftsteller und schuf Prosawerke, Theaterstücke, Film- und Fernsehdrehbücher und Essays. Seine Arbeiten wurden in der Folge mit Preisen und Stipendien bedacht, unter anderem dem Würdigungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur (2002). Einem breiteren Publikum bekannt wurde Riess mit seinen Groll-Krimis, deren erster im Jahr 2006 erschien. In insgesamt acht Büchern schickte der Autor den Rollstuhlfahrer Groll im Verbund mit seinem Freund, dem Dozenten, auf die Fährte von Verbrechen, hinter denen stets ein größerer Kosmos mit gesellschaftspolitischer Brisanz und zeitgeschichtlicher Tiefe zum Vorschein kam. In der Groll-Reihe verknüpfte Riess die Handlungsform der Kriminalerzählung mit dem aufklärerisch-analytischen Temperament des Essayisten auf höchst virtuose Weise. Riess wies darauf hin, dass sich in dem Gespann Groll-Dozent die in der Literaturgeschichte häufig figurierte Form der Klassendifferenz spiegle: Man denke an Don Quijote und Sancho Pansa (Cervantes), an Jacques den Fatalisten und seinen Herrn (Diderot) oder an die katholisch-kommunistische Variante im Duo Don Camillo und Peppone (Guareschi).

Der Vorlass von Erwin Riess wurde 2018/19 in die Sammlung des NÖ Literaturarchivs aufgenommen. Im Zuge der Übernahme ergab sich die Gelegenheit, die facettenreiche Persönlichkeit des Autors kennen und schätzen zu lernen. In einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Literaturhaus Niederösterreich in Krems, dessen Vorstand Riess angehörte, folgte im März 2020 eine Lesung auf dem Gelände der VÖEST sowie ein öffentliches Gespräch mit dem Autor über seine Arbeit und seine Beziehung zur Geburtsstadt samt deren zeitgeschichtlichen und politischen Untiefen.

Wir sind in Gedanken bei der Familie und den Freundinnen und Freunden des Autors sowie den Mitstreiterinnen und Mitstreitern des Behindertenaktivisten. Möge sein literarisches Werk weiter gepflegt werden und sein gesellschaftspolitisches Engagement weiterwirken!